Bulgarien
Bulgarien ist nach Griechenland der zweitgrößte Staat des Balkans und beheimatet einen großen Teil des gleichnamigen Gebirges. Bulgarien deshalb als Kernland des Balkans zu bezeichnen wäre aber falsch, weil Bulgarien zu kaum einer Zeit den Balkan kulturell oder gar kulinarisch beeinflusst hat. Das Land wurde fast immer von außen beherrscht, und vor allem die Türken haben Bulgarien ihren Stempel aufgedrückt. Der Kommunismus führte schließlich dazu, dass das Land in eine Randposition gedrängt wurde, die letzten Reste seiner Identität beinahe verlor und aus dieser Misere trotz EU-Hilfe nur schwer herausfindet. Sich auf die Suche nach bulgarischen Originalrezepten zu begeben ist daher eine mühsame Aufgabe, aber auch eine interessante, da das große Land über viele kulinarische Schätze verfügt, von denen es selber fast nichts mehr weiß. So ist es wenig verwunderlich, dass die bulgarische Küche bis heute kaum international bekannt ist. Dabei ist sie durchaus variantenreich und, insbesondere in abgelegenen bäuerlichen Gegenden, noch immer recht urtümlich. Wenn man von großen Feiern und Familienfesten einmal absieht, dann sind der kulinarische Alltag ernüchternd und die Tischsitten gewöhnungsbedürftig.
So ist das Frühstück meist dürftig, oft nur ein Stück Käse – für die meisten Bulgaren heißt frühstücken einen oder zwei Espresso schlürfen und dazu mehrere Zigaretten. Die Hauptmahlzeit wird so ab 13.00 Uhr gegessen, doch selten wird sie überhaupt auf den Tisch gestellt, weil kaum eine Familie gemeinsam isst. Wer Lust hat, isst früher, die anderen oft Stunden später. Männer verspäten sich ohnedies immer, da sie sich mit ein paar Schnäpsen auf das Essen vorbereiten müssen. Abends gibt es nur eine kleinere, einfache Mahlzeit. Desserts und Nachspeisen sind selten, wenn, dann gibt es sie als Snack zum Kaffee.
Mit diesem Wissen wird man dann auch nicht verwundert sein, dass man heute im Zentrum der Hauptstadt Sofia mehr italienische Lokale findet als solche mit »einheimischer Küche«.
Warum aber besitzt ein Land, das über landwirtschaftliche Reichtümer verfügt, über nahezu jede Sorte Fleisch und eine geradezu einzigartige Gemüsevielfalt, keine Küche von internationalem Ruf? Und warum existiert hier keine Fischküche, obwohl das Land einen direkten Zugang zum Schwarzen Meer hat, in dem sich zahlreiche Speisefische tummeln?
Die ursprüngliche bulgarische Küche – sofern man von ihr sprechen kann – ist im Wesentlichen von den Thrakern geprägt, den Ureinwohnern des Balkans. Diese ernährten sich überwiegend von pflanzlicher und tierischer Kost, wobei Historiker vermuten, dass die pflanzliche überwogen haben dürfte. Forschungen vom Ende des 19. Jahrhunderts ergaben, dass sich zumindest die bäuerliche Schicht Nordwestbulgariens fast ausschließlich vegetarisch versorgte: Milchprodukte (insbesondere Käse und Joghurt), Eier, Brot, Getreidebrei, Nüsse, Früchte, Zwiebeln, Knoblauch, Sauerkohl und Essiggemüse waren die zentralen Bestandteile der Ernährung, später kamen Kartoffeln, Hülsenfrüchte, Paprika und Tomaten hinzu. Frischfleisch gab es äußerst selten; einige Bauern hielten zwar Schweine, doch wurden diese so gut wie nie frisch gegessen, sondern verwurstet. Hühner wurden nicht verzehrt (wenn, dann nur die Hähne), da man sie als Eierlieferant brauchte, genauso wie Kühe, Schafe und Ziegen mehr der Milchwirtschaft dienten denn als Fleischlieferanten. Bereits in der Frühzeit konservierte man Lebensmittel für Notzeiten, ein Brauch, der bis heute von fast allen ländlichen Haushalten beibehalten wurde – die Rezepte für hausgemachte Konserven sind so vielseitig und zahlreich, dass man ganze Bücher damit füllen könnte.
Einen bedeutenden Teil der Nahrung machen heute, neben dem allerorts beliebten Sauerkohl, Hülsenfrüchte und Kartoffeln aus. Vor allem die Gebirgsbevölkerung liebt ihre Kartoffeln und isst sie bevorzugt gekocht (mit Rahm oder Butter), gebraten (mit Schmalz oder Speck) und sogar in Form von Pommes frites. Kartoffeln dienen hier als eigenständiger Snack oder auch als Hauptgericht, aber nie als Beilage.
Heute spielt Fleisch eine wesentlich bedeutendere Rolle in der bulgarischen Küche – ein Verdienst der Türken und zu einem geringeren Teil, zumindest im Süden Bulgariens, auch der Griechen. Traditionelle Fleischrezepte sind nicht überliefert. Durch die Türken lernten die Bulgaren den Umgang mit Lammfleisch kennen, lernten Büffel zu schlachten und zu verarbeiten. In der Praxis brauchten die Bulgaren sie allerdings eher für Feldarbeit und Milchwirtschaft, zum Essen waren sie zu schade und zu wertvoll. Die Liebe zum Konservieren machte in Bulgarien auch vor dem Fleisch nicht halt; die Vielzahl an Speck, Dörrfleisch, Wurst- und Schinkenwaren ist bis heute beachtenswert.
Von den Türken lernte man weiter Lammfleisch zu hacken und über Holzkohle zu garen. Für das perfekt gebratene Spanferkel waren die Griechen und Serben zuständig. Diese am Spieß gebratenen Leckereien bilden bis heute den Mittelpunkt ausgedehnter Festivitäten und sind eine gute Grundlage für den Schnaps, der bei solchen Anlässen in Strömen fließen muss.
Mittlerweile schätzen die Bulgaren Geflügel auch in der Küche, vor allem das (preiswerte) Huhn. Gänse werden hie und da zubereitet, während Ente, Pute, Tauben, Wachteln, Fasane und Rebhühner - obwohl reichlich vorhanden - als Delikatesse gelten; die Zubereitung lehnt sich einmal mehr an die der Türken, Griechen oder neuerdings auch der Italiener an.
Die Einflüsse mediterraner Kochkunst sind wohl auch ausschlaggebend dafür, dass heute überhaupt Fisch zubereitet wird. Die Rezepte sind türkischen, griechischen, italienischen und sogar russischen Zubereitungen abgeschaut.
Sauermilch (bulgarisch kiselo mljako) ist wohl das bedeutendste Produkt Bulgariens und aus der Ernährung des Landes nicht wegzudenken. Nicht umsonst heißt der Bazillus, der für die Säuerung sorgt, Bacillus bulgaricus. Von der Konsistenz her ähnelt bulgarische Sauermilch Joghurt, doch schmeckt sie viel natürlicher und hält 100 Jahre jung, wenn man den – zugegebenermaßen häufig anzutreffenden – Alten Glauben schenken will. Bis heute begnügen sich viele, vor allem ältere Bulgaren, zum Abendessen mit einem Stück Brot und einer Schale Sauermilch – und das nur selten aus Kostengründen.
Überhaupt bilden Milchprodukte neben Gemüse das zweite Standbein der bulgarischen Küche, neben Sauermilch die vielen unterschiedlichen Käse, vor allem der Sirene genannte Salzlakenkäse und der gelbe Hartkäse. Sie werden zum Frühstück genossen, als Imbiss zwischendurch, dienen als Abendessen oder als Zutat in der Küche und werden nicht zuletzt als Happen zu Bier, Wein und Schnaps gereicht. Zudem kennt man eingelegten, gewürzten und auch wärmebehandelten Käse und gebratener oder panierter und gebackener Käse erfreut sich in ganz Bulgarien großer Beliebtheit.
Nicht vergessen sei das Brot, das neben verschiedenen Getreidebrei-Gerichten über Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende das Grundnahrungsmittel schlechthin war – es ist derart wichtig für die Bulgaren, dass »Brot« in vielen Redensarten gleichbedeutend mit »Essen« verwendet wird. Gäste werden traditionell mit Brot und Salz empfangen. Zu Festen und besonderen Anlässen werden bis heute eine Vielzahl von speziellen Broten gebacken, von denen manche bereits Kultstatus haben.
Auf der Suche nach der typischen Küche Bulgariens wird man auf zwei Elemente stoßen: zum Einen mit Mehlsaucen gebundene Eintöpfe, lange schmorende Aufläufe und Gemüsegerichte, zum Anderen die recht schonende Zubereitung aller Speisen. Die Produkte müssen frisch sein und sollten möglichst wenig von ihrem Eigengeschmack einbüßen – deshalb ist in Bulgarien der Tontopf so beliebt, der beide "Wünsche" erfüllt. Dem Würzen wird keine große Bedeutung beigemessen, ob mild oder pikant, ist nebensächlich und Geschmacksache, wichtig ist, dass die Speisen nahrhaft und trotzdem leicht verdaulich sind. Denn das ist das Überraschendste an der bulgarischen Küche: Trotz der Verwendung von Ölen, Fetten und schweren Zutaten wirkt sie wegen der Zuhilfenahme von Gewürzen wie Knoblauch, Petersilie, Dill, Krauseminze, Bohnenkraut, Peperoni und (oft selbst gesammelten) Wildkräutern unglaublich leicht. Dazu kommen die in Sauermilch eingelegten Gemüse wie Gurken oder Kraut, appetitanregende Salate, frisch gerissener Meerrettich oder würzige Wurzeln wie Radieschen und Rettich. All das lässt die bulgarische Küche »gesund« und vitalisierend erscheinen.
Im Gegensatz zu anderen Balkanregionen kennt Bulgarien eine ganze Reihe von Gerichten, die typisch sind für bestimmte Festtage. Diese sind naturgemäß von Region zu Region unterschiedlich. So kommen zum Beispiel am Heiligen Abend, je nach Gegend, sieben, neun oder elf fleischlose Gerichte auf den Tisch. Weihnachtliche Gerichte wie Buranija (Weiße Bohnen mit Sauerkohl), Weiße Bohnen mit roter Paprika, Weiße Bohnen im Tontopf geschmort, Weinblätter mit Reisfüllung, Sauerkrautwickel mit Reis und Kraut gefüllt, Baniza (Strudel mit Kürbisfüllung) oder auch nur ein Dörrobst-Kompott sind spartanisch und immer vegetarisch.
Der vielleicht wichtigste Tag im kulinarischen Brauchtumskalender ist der 6. Mai, der St.-Georgs-Tag. An diesem Tag des Hirten werden Lammgerichte aufgetischt. Einst den wehrhaften Männern gewidmet, die gegen die fremde Obrigkeit kämpften, ist er für viele Bulgaren gleichzeitig eine Art Namenstag, die Georgi, Gergana, Ginka oder (neuerdings) auch Gregor und Georgetta heißen. Überhaupt spielen Namenstage in Bulgarien eine große Rolle, doch die alten, mit ihnen verbundenen Rezepte sind leider verschwunden.
Noch wichtiger als die Namenstage ist aber das Osterfest, zu dem traditionelle reginoale Gerichte wie Kozunakc (ein zopfartig geflochtenes Osterbrot aus Hefeteig), mit Reis und Backpflaumen gefülltes Lammfleisch, in Weißwein gegarte Lammkeule (oder -stelzen) sowie Kolatsch (ein Osterkuchen mit Orangen-, Vanille-, Kaffee- und Rosenwasser-Aroma) aufgetischt werden.
Die Weine des Landes, von denen schon Plinius berichtete, sind eines der Aushängeschilder des kulinarischen Bulgarien. Trockene, milde Rotweine und ebenfalls trockene, kernig herbe Weißweine sorgen mittlerweile auf der ganzen Welt für Ansehen und finden große Anerkennung. Die goldgelben, aromatischen Dessertweine haben jedoch die meisten Liebhaber, denn sie künden von einem sonnigen Land am Rande Europas, das schon viele Reize des Orients in sich aufgenommen hat.
Unterm Strich ist die bulgarische Küche wesentlich abwechslungsreicher als gemeinhin bekannt. Und obwohl die Rezepte seit unzähligen Generationen weitergegeben werden, entsprechen sie in vielen Fällen genau dem, was moderne Ernährungswissenschaftler predigen.
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