Berlin
An Berlin kann niemand mehr vorbei – schon gar nicht als Genießer. Die Stadt ist ein Hochgenuss und die Vielfalt an dargebotenen Köstlichkeiten ist auf dem Europäischen Kontinent geradezu einmalig. Kaum eine Delikatesse, die es nicht zu kaufen gibt, kaum ein Rezept, das nicht in einem der vielen tausend dampfenden Kochtöpfe gegart wird und kaum eine Rarität, die nicht irgendwo verkostet werden kann. Von Currywurst und Döner über Eisbein und Kassler bis hin zu gepresstem Hummer, feinstem Imperial Kaviar und edelstem Sashimi scheint es (fast) alles zu geben, was das Genießerherz begehrt.
Berlin wird immer schöner, immer trendiger, immer moderner und vor allem aus kulinarischer Sichtweise immer besser. Ja, vielseitig war es – nicht zuletzt aufgrund der Zuwanderung – schon immer. Aber so fein, so gut und so perfekt wie heute, hat es wahrscheinlich seit der sogenannten „Guten Alten Zeit“ nicht mehr gekocht. Und das nicht nur für ein paar Reiche und Privilegierte, sondern auch für ein breites bürgerliches Publikum – und das ist gut so!
Dabei war das Verhältnis der Berlinerinnen und Berliner zu ihrer Hauptstadtküche nicht immer unproblematisch und selbstredend schon gar nicht friktionsfrei. Besonders deutlich wird dies an der Tatsache, dass bis heute der Begriff „Berliner Küche“ weit weniger in den Köpfen der Menschen kursiert, als beispielsweise der der „Wiener Küche“ – und das, obwohl beide Küchen in ihrer Entstehung sehr ähnlich sind, weil sie aus einem Sammelsurium von regionalen Köstlichkeiten, Nahrungsmitteln und Spezialitäten aus dem Umland sowie Inspirationen und Rezepten der Zuwanderer (insbesondere derer aus den ehemaligen Reichsgrenzen) entstanden. Während die Wiener mit stolz auf ihre „Wiener Küche“ verweisen so wissen die meisten Berliner mit dem Begriff „Berliner Küche“ bis heute wenig anzufangen. Besonders deutlich wird das in der Spitzengastronomie, denn es existiert kaum ein renommiertes Lokal mit Berliner Küche (wenn überhaupt, dann wird zumeist „deutsche Küche“ angeboten).
Die Reminiszenz der Berliner Küche findet sich im Bürgertum des 19. Jahrhunderts. In dieser Zeit fand eine extreme Ausdifferenzierung der Berliner Küche statt, die einerseits aus der historischen Armen-Leute-Küche bestand und zum anderen im Prunk des Adels ihre Höhepunkte fand. Dazwischen aber konnte sich eine ganz eigene, für die damalige Zeit geradezu revolutionäre neue Stilistik erfinden, die wir heute gerne mit dem leicht abgedroschenen Begriff „gutbürgerlich“ assoziieren. Es wurden Weichen für eine repräsentative, bürgerliche Esskultur gestellt, die bis heute der Bundeshauptstadt eine gewisse kulinarische Identität geben und auf fast allen Speiselokalen mit sogenanntem „Altberliner“ Anspruch zu finden sind; Eisbein mit Sauerkraut beispielsweise oder Kasslerbraten sind zwei solche Gerichte. Und das Amüsante daran ist, dass die BerlinerInnen zu all diesen Gerichten auch noch eine passende Geschichte (besser: Legende) zu erzählen haben – so wird auf unterhaltsame Weise auch die schwerste Kost leicht verdaulich.
Für die Berlinerinnen und Berliner spielen aber sowohl die zahlreichen (zum Teil wirklich sensationell guten) Gourmettempel als auch die sogenannten bürgerlichen Lokale eher eine untergeordnete Rolle, sie selbst haben eine andere Form der kulinarischen Inszenierung: Berlin als Hauptstadt der Currywurst, denn die ist der einzig feste Bestandteil Berliner Selbstinszenierung.Da gibt es kultige Buden, welche vielfach recht ungemütlich erscheinen, andere mit wirklich ausgezeichneter Ware und dann wieder solche, die Curry mit Schampus anbieten – gemeinsam ist allen, dass sie eine Plattform für Selbstdarsteller bieten und nicht selten die Gäste und Konsumenten interessanter sind, als die Würste selbst.
Berlin ist verletzlicher als es den Anschein macht und längst sind nicht alle Narben geheilt – viel zu oft musste in der Vergangenheit ein entspannter Umgang mit Essen und Trinken über die reine Versorgung hinaus, dem tagespolitischen Geschehen weichen und hintenanstehen. Kulinarisches Erbe mit großem Potential ging dabei vielfach verloren und geriet nicht selten in Vergessenheit.
Heute ist Berlin aber auf dem besten Wege wieder eine blühende Metropole mit einzigartigem kosmopoliten Flair zu werden und hat nun endlich auch genügend Muße, sich der alten Rezepturen zu erinnern, denn Eisbein mit Sauerkraut und Erbspüree schmeckt zwar lecker, ist aber längst nicht die Speerspitze der Berliner Küche.
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