Venedig
Venedig ist einzigartig. Die Stadt ist wie eine Grande Dame: faszinierend, aufregend, fesselnd und voller Geheimnisse. Und die Venezianer verstehen sich bis heute als veneziani und nicht als Italiener! Das ist kein Snobismus oder übertriebener Stolz, sondern eine Überlebensstrategie. Denn das Leben in der Lagunenstadt ist nur für wenige romantisch, idyllisch und so etwas wie ein Traum. Die meisten Venezianer brauchen das Selbstverständnis, dass sie etwas ganz Besonderes „hüten“ und „pflegen“ müssen, denn die launische Stadt macht ihnen das Leben wirklich nicht leicht – acqua alta ist da noch das geringste Übel. Aber die sehr innige Verbundenheit mit ihrer Heimat lässt die Venezianer alle Entbehrungen vergessen und mit vereinten Kräften wird versucht – fast wie auf einem sinkenden Schiff – alles Menschenmögliche zu unternehmen, damit Venedig auch morgen noch strahlt. Und deshalb wird dem Tourist bereitwillig Auskunft nach Weg und Sehenswürdigkeiten gegeben, doch niemals wird ein Ortsunkundiger hinter die Fassaden blicken dürfen.
Das ist wohl auch der Grund, warum man immer wieder hört, dass die Stadt in kulinarischer Hinsicht nicht wirklich "top" sei, dass die Lokale und Restaurants überteuerte Preise verlangten oder die Gastronomie nur darauf aus sei, die Besucher abzuzocken. Das teuer mag zuweilen sogar stimmen, vor allem wenn man auf den klassischen Wegen wandelt, die ein jeder Erstbesucher allein schon der Kultur wegen machen sollte. Venedig hat aber auch ganz andere Seiten: liebevolle, mütterliche und zärtliche. Und hier befinden wir uns beim Thema dieses Internet-Portals, denn wo fühlt sich ein Genießer wohler als an einer gedeckten Tafel, mit den Geschmäckern und Aromen der Region? Diese sind in Venedig unglaublich vielfältig, denn der ehemalige Reichtum und politische Einfluss der Stadt garantierten ein genussvolles und ausschweifendes kulinarisches Leben, das kaum Wünsche offen ließ.
Auch heute noch kann man in den Genuss der echten venezianischen Küche kommen. Nicht unbedingt nur in den teuren Lokalen, sondern auch in den kleinen Osterien, die von den Einheimischen besucht werden und bei den Großmüttern der Venezianer selbst. Was heute in bekannten Lokalen wie der „Trattoria alla Madona“, der „Harry’s Bar“, dem Heiligtum der Amerikaner, oder auch in der so beliebten „Osteria Franz“ aufgetischt wird, mag mehr als nur "in Ansätzen" venezianisch sein, nimmt aber Rücksicht auf den viel zitierten „internationalen Geschmack“. Das ist keineswegs abwertend gemeint, doch der authentische Geschmack ist ein anderer. Die echte venezianische Küche ist zwar salzarm, aber nicht „geschmacksneutral“ und keinesfalls benutzt sie „wenig Gewürze“ um den Eigengeschmack des Produktes hervorzuheben. Das stimmt nur dann, wenn es sich um ein Produkt mit einem besonders guten Eigengeschmack handelt (wie z. B. sehr edle Meeresfrüchte). Insbesondere die mittelalterliche Küche Venedigs benutzte Gewürze in geradezu verschwenderischer Weise.
Die Venezianer der Lagune lieben ihre Aale, die Blässhühner, Wildenten, Schnecken, Frösche, Kaninchen und Gänse, für die sie so viele Zubereitungsarten kennen, dass man hunderte Buchseiten damit füllen könnte. Die kleinen Happen, cicchetti genannt, gelangen in Venedig zu kulinarischen Ehren und sind bei Venezianern fast noch beliebter als die weltberühmten tramezzini. Schließlich muss bei dieser Aufzählung auch das tolle Gemüse der Lagune erwähnt werden, allen voran den Radicchio, die castraure (spezielle junge Artischocken-Triebe) und jene junge Erbsen, die den risi e bisi zur Legende werden ließen. Und da waren dann noch die echten vongole, die aus dem Schlamm der Lagune gesammelt und mit den Fischern gemeinsam verspeist werden sollten, bis der reichhaltig genossene Wein den Tag zum Traum werden lässt. Weltberühmte Drinks wie „Bellini“ oder "sprizz alla venexiana" stammen aus der Serenissima. Und wer kennt nicht das gnadenlos gute carpaccio alla Cipriani mit seiner feinwürzigen Sauce? Last but not least, sollen die venezianischen biscotti, das Mandelgebäck und all die verschiedenen dolci nicht unerwähnt bleiben.
Venedigs Küche ist also bedeutend abwechslungsreicher, als allgemein bekannt und weit mehr, als die üblichen Pasta- und Risotto-Gerichte, die sich mit gegrilltem Fisch in vielen Lokalen die Hand reichen. Leider sind die traditionellen Rezepte nicht mehr omnipräsent - doch das ist zu einem Grutteil dem touristischem Fundamentalismus zuzuschreiben. Die Venezianer selbst pflegen diese Küche: freilich fast nur mehr zu Hause, am eigenen Herd!
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