Wien
Die „Wiener Küche“ ist die einzige der großen Regionalküchen der Welt, die ihren Namen nicht einem Landstrich, sondern einer Stadt zu verdanken hat – auch das macht sie so unverwechselbar. Andererseits hatte die Wiener Küche ein „kleines“ Problem, denn dadurch dass sie bis heute verschiedensten Einflüssen ausgesetzt war, hatte sie es zunächst sehr schwer als „eigenständig“ akzeptiert zu werden. Schon allein die Wiener Küchensprache ist ein Konglomerat aus verschiedensten sprachlichen Einflüssen der ehemaligen Kronländer der alten Donaumonarchie, welche die Wiener Küche maßgeblich beeinflusst und mitgeprägt haben. So waren es Tschechen, Slowaken, Polen, Ungarn, Slowenen, Bosnier, Kroaten, Serben, Italiener und nicht zuletzt Juden, welche die Wiener Küche mitentwickelt haben, ja sogar Hirten und Zigeuner durften das ihrige dazu beigetragen. Obendrein hegte der Hof lange Zeit eine besondere Liebe für das Französische und die französische Küche. Doch bei all diesen Einflüssen ist es der Wiener Küche – insbesondere im 19. Jahrhundert – gelungen, eine ganz eigene, selbstständige Handschrift zu entwickeln; und so wurden, neben eigenen neuen Ideen, die fremdartigen Rezepte übernommen, sozusagen „eingewienert“ und die Wiener Küche konnte zu ihrem eigenen Profil finden.
„Essen und Trinken“ sind wahrscheinlich das Wichtigste im Leben der Wiener und die meisten von ihnen werden sich uneingeschränkt Werner Schneyder anschließen, der auf die Frage nach dem vollkommenem irdischen Glück „Gebackener Karpfen mit Grünem Veltliner“ antwortete und dabei „das Lesen von Speisekarten“ als seine Lieblingsbeschäftigung angab.
Wenn in Wien die Lust zum Essen und Trinken erwacht, so ist es mit anderen Leidenschaften meist recht schnell vorbei. In kaum einer anderen Stadt (außer vielleicht noch Bologna) gilt der Satz des französischen Feinschmeckers Brillat-Savarin mehr als für Wien: „Die Entdeckung eines neuen Gerichts ist für das Glück der Menschheit wichtiger, als die Entdeckung eines neuen Gestirns.“ Und dieser langen Tradition folgend, sind heute längst auch Griechische, Türkische, Arabische, Indische, Chinesische und Japanische Gerichte in Wien heimisch geworden und haben die einzigartige kulinarische Landschaft der Stadt bereichert. Was das Essen und Trinken betrifft sind die Wiener nach wie vor so offen für neue Ideen, wie seinerzeit; ein schönes Beispiel dafür ist die Tatsache, dass Wien wahrscheinlich die „Sushi-Hauptstadt“ Europas werden könnte (nirgendwo sonst wird man eine derartige Dichte an Sushi-Lokalen vorfinden, wie in Wien).
Bei all dieser kulinarischen Neugierde haben die Wiener aber drei feste Säulen, auf die sie nie und nimmer verzichten werden wollen: es sind diese das Kaffeehaus, der Heurige und natürlich das Beisl. Hier ist man nicht so erpicht auf Veränderungen, hier sollte möglichst alles beim alten bleiben, „Überraschungen“ sind daher eher unerwünscht.
Die Wiener waren schon immer sehr brave Esser, so werden von den ca. 1,8 Millionen Einwohnern der Bundeshauptstadt im Jahresschnitt rund 650.000 Schweine, 325.000 Kälber, 250.000 Rinder, nahezu 500.000 Hasen sowie mehrere Millionen Stück Geflügel verspeist, ganz zu schweigen von den unzähligen Fischen, Wild, Lamm, Kitz, Kaninchen, Eiern, etc., etc.. Dazu werden jährlich mehr als 3 Millionen Hektoliter Bier und weit mehr als eine halbe Million Hektoliter Wein weggeschlürft – Prost, Mahlzeit! „Essen und Trinken“ hält eben „Leib und Seel’ z’sammen!“
Die Hauptmahlzeiten gehören als regelmäßige Kulthandlungen schon immer zu den Höhepunkten des Tages. Zwischendurch muss aber auch Zeit für die „Zehnerjaus’n“, das „Gabelfrühstück“ oder eine kleine Mehlspeis’ zur Kaffeejause am Nachmittag sein. Hin und wieder vielleicht ein kleines Konfekt aus der Konditorei, an der man gerade zufällig vorbeischlendert oder vielleicht doch eine schnelle „Burenwurst“ am Würstelstand mit Kremser Senf und 16ner Blech? Der Wiener genießt bei aller kulinarischen Weltoffenheit seine G’röste Leber, sein Beinfleisch, Beuschl, Gollasch, Schnitzel, den guten Schweinbraten (mit rescher Kruste), Backhendl, Stelzen und das feine Rostbratl; da kann der Türke vor den Toren der Stadt stehen, die Pest toben, die Börse krachen oder auch die Reichsbrücke einstürzen – beim Papperl kennt er nix und lässt sich nicht aus der Ruhe bringen; für das gute Papperl und ein Achterl Wein muss in Wien halt immer Zeit sein.
Dass Wien im Laufe der Zeit zu einem derartigen Schlaraffenland werden konnte, im dem zwar nicht – wie in Bologna – der Himmel voller Würste hängt, dafür aber „allaweil die Backhendln rumfliegen“, wie der Satiriker Hans Jörgel von Speising im Jahre 1852 bemerkte, liegt nicht zuletzt daran, dass die Metropole in einem einzigartigen landwirtschaftlichen Umfeld liegt und insbesondere vom Weinviertel und Marchfeld mit einer Vielzahl von Produkten versorgt wurde und wird! Hinzu kommt, dass in Wien selbst noch heute fast zweitausend Bauernhöfe existieren, die nicht nur Weinbau betreiben, sondern z.B. auch Viehhaltung.
Und so stellte der bekannte deutsche Gastrosoph Wolfram Siebeck nach einem mehrtägigen Wien-Aufenthalt, bei dem er vor allem die eher üppigen Mahlzeiten der sogenannten Vorstadtbeiseln genoss, begeistert fest: „Die Wiener Küche ist zu einer Insel des Genießens im Meer der anonymen Einheitlichkeit geworden!“
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