Tschechien
Man sagt, ein jedes Volk habe seine typische nationale Küche, mit Speisen voll Charakter, Duft und Eigenständigkeit. So auch die böhmische Küche, auf den ersten Blick freilich nur, denn auf den zweiten Blick wird man feststellen, dass mehr als ein Volk am gemeinsamen Haus „Böhmische Küche“ beteiligt war. Betrachtet man aber das heutige Speiseangebot in der Tschechei – vor allem das von Lokalen – so wird man sich zwangsläufig die Frage stellen, wo sie denn geblieben ist, diese fast schon legendäre Küche, die so viele andere berühmten Küchen Europas maßgeblich beeinflusst hat? Was wäre die Österreichische Küche – respektive Wiener Küche – ohne die Böhmischen Mehlspeisen oder ohne die Böhmische Liebe zu Knödeln und Kraut? Und wo stünde die Berliner Küche, ohne die Tipps und Tricks oder die kräftigen Saucen mit Mehlschwitze und Einbrenn gebunden, die einst von Böhmischen Zuwanderern in die heutige Bundeshauptstadt gebracht wurden? Was ist mit Böhmen, vor allem Prag, selbst? Hat man auch hier vergessen wer man ist und was man isst? Fragen, mehr als man in wenigen Zeilen beantworten kann, aber auch Fragen, die bereits darauf hindeuten, dass die Böhmische Küche mehr ist, als eine reine, mehr oder weniger umfangreiche Sammlung an Rezepten aus allen Landesteilen der heutigen Tschechei. Die Böhmische Küche ist Synonym für einen Lebensstil, der heute mehr und mehr in Bedrängnis gerät, denn sie steht für mütterliche und großmütterliche Liebe, wohliges und häusliches Umsorgt sein, deftige und sättigende Kost ohne störendes Kalorienzählen und nicht zuletzt für Töpfe, die sich nie zu leeren scheinen. Einer Mär vom Schlaraffenland gleich kommt die Aufzählung der deftig-saftigen Braten, der köstlichen Fischgerichte und der herrlich duftenden Mehlspeisen, die den Genießer zum Träumen verleiten und Diplomaten haben Schwäche zeigen lassen. Nein, die Böhmische Küche ist keine Rezeptsammlung, sondern eine Lebenseinstellung. Eine Einstellung zu einem bewusst geführten Leben, die den reinen Genuss in den Mittelpunkt stellt – ohne Wenn und Aber!
An der Entstehung der böhmischen Regionalküche und ihrer Entwicklung sind zunächst einmal die Hausfrauen maßgeblich beteiligt und zwar nicht die aus den ersten urbanen Ansiedelungen, sondern die aus der fruchtbaren Elbe-Ebene, aus dem Riesengebirge-Vorland oder die von der Böhmisch-Mährischen-Höhe. Somit ist bereits deutlich, dass die Böhmische Küche ihre Wurzeln nicht in der Höfischen Küche hat, sondern in der bäuerlichen Regionalkost. Und diese wird – wie bei allen großen Regionalküchen der Welt – nicht von den Menschen ursprünglich bestimmt, sondern vor allem von der Faktor Natur. So wurde die Küche Böhmens – das übrigens nahezu zur Gänze von einem Gebirgskranz umrandet wird – zweifellos durch das hier vorherrschende Mikroklima beeinflusst, denn das war entscheidend dafür, was Gewässer, Wälder, Felder und Höfe an Viktualien hergaben. Das schließlich bestimmte den Speiseplan der originalen Böhmischen Küche und tut dies – wenn man traditionell kocht – heute noch.Dieser Speiseplan war – im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Regionen – erstaunlich vielseitig gestaltet, was dazu führte, dass die Ernährung in Böhmen schon seit alters her wesentlich abwechslungsreicher und mannigfaltiger war, als viele andere. Getreide von fruchtbaren Äckern sorgte für die Grundlage, denn aus ihm konnten salzige Breie genauso zubereitet werden, wie süße Gebäcke – bis heute sich alle Formen von Mehlspeisen (von pikanten Knödeln bis süßen Gebäckformen) die Stütze der Böhmischen Küche; später kamen dann noch Kartoffeln hinzu, die wie Getreide sowohl in pikanten, wie auch süßen Rezepten Verwendung fanden. Die Höfe versorten die Küchen zudem mit Geflügel (vor allem Huhn und Gans, aber auch Ente), reichlich Hammel- und Schweinefleisch (das meist zu Speck und Wirst verarbeite wurde und das für die böhmische Küche unentbehrliche Schmalz lieferte) und aus den Teichen kamen kapitale Hechte sowie fette Karpfen – bis heute eine Leibspeise der Böhmen. Wälder und Flur boten Wild in Hülle und Fülle, vor allem Hasen und Fasane brachten es zu Stars in den böhmischen Töpfen. In den Gärten grünten Möhren, Sellerie, Petersilie, Zwiebeln, Knoblauch und Schnittlauch, die sowohl als Gemüse, wie auch Gewürz verwendet werden konnten und durch Brennnesselblätter, Bärlauch, Löwenzahn und Liebstöckel ergänzt wurden; nicht vergessen darf man an dieser Stelle Majoran und Kümmel, welche bis heute die wichtigsten Gewürze der böhmischen Küche zu sein scheinen. Himbeeren, Brombeeren, Heidelbeeren, Holunderbeeren und Pilze konnten in den dunklen Wäldern in beinahe unermesslichen Mengen gesammelt werden und wurden entweder gleich frisch genossen oder für den Winter eingelegt und konserviert – überhaupt waren die Wälder einer der wichtigsten Rohstofflieferanten. Wenn der Herbst dann die Natur in bunte Farben tauchte, gesellten sich Birnen, und Äpfel in die Küche, die übrig gebliebenen Früchte wurden im Keller gelagert oder zu köstlichem Dörrobst oder in Form einen herrlichen Kompotts als Vorrat für den Winter konserviert. Etwas später im Jahr konnten dann die Zwetschgen geerntet werden, der einzig legitime Rohstoff für den Powidl (Zwetschkenmus) und das Klevera (dünnes Zwetschkenmus). Powidl war nicht nur Bestandteil der berühmten Mehlspeisen (Buchteln, Knödelfülle etc.), sondern man nutzte ihn auch als natürliches Süßungsmittel für zahlreiche Saucen (z.B. für Wildgerichte, Karpfen u.v.a.m.). Nicht vergessen dürfen wir an dieser Stelle den Mohn, den die Slawen in die Böhmische Region gebracht haben und der wichtiger Bestanteil von liebevoll zubereiteten Mehlspeisen und duftendem Weihnachtsgebäck ist (bis heute ist der Mohn bei den Slawischen Völkern ein fixer Bestandteil in weihnachtlichem Brauchtumsgebäck).Der geneigte Leser wird nun bereits festgestellt haben, dass hier immer wieder von „war“ oder „wurde“ die Rede war – bewusst und aus gutem Grund, denn die großartige Küchentradition Böhmens ist vom Aussterben bedroht, sieht man von ein paar Rezepturen ab, die heute noch praktiziert werden oder die sich ins benachbarte Österreich retten konnten und dort zu Stützpfeilern der Österreichischen bzw. der Wiener Küche wurden. An dieser Entwicklung sind viele Faktoren ursächlich schuld, der Sozialismus, die Umweltverschmutzung oder die Abwanderung im 19. Jahrhundert sind nur drei von ihnen. Apropos Abwanderung: in Wien lebten um die 19. Jahrhundertwende etwa 2 Millionen Menschen, von denen nicht weniger als 400.000 gebürtige Böhmen waren. Einzelne Berufsgruppen wurden von diesen klar dominiert: neben Schneidern und Dienstmädchen waren das vor allem die Köchinnen, die somit klarerweise den böhmischen Küchenstil nach Wien brachten, wo dieser bis heute präsenter ist, als in seiner Heimat – mehr noch: diese Küchenstilistik ist so prägnant für Wien, dass viele glauben, in Wien wäre niemals anders gekocht worden und diese Küche sei die echte Wiener Küche! Und diese Küche erfreute sich nicht nur in den Beiseln und bürgerlichen Haushalten der Stadt, nein auch das Großbürgertum und die Feudalen erfreuten sich an böhmischem Wild, großen weißen Poularden und fetten Gänselebern.
Der Duft von in Schmalz oder Speck gerösteten Zwiebeln, Majoran, süßen Zwetschken und duftendem Quargel ist bis heute nicht vergessen, genauso wie der unvergessene Satz, welcher beim Swejk tiefe Küchenweisheit ausdrückt: „Gerade zur Küche sollte man intelligente Menschen geben, wegen der Kombination, denn es kommt nicht darauf an, wie man kocht, sondern mit welcher Liebe man Speisen zubereitet.“Nicht die Männer oder selbsternannte Küchengötter in Weiß waren es, die die Böhmische Küche geprägt haben, sondern die Kreativität der Frauen mit ausgeprägter Leidenschaft für gute Küche! Die Böhmische Küche ist ein glorreiches Beispiel dafür, wie kreativ regionale Kost sein kann, wenn sie unter einem Küchenmatriarchat steht – und das fernab von emanzipatorischem Gedankengut, sondern mit dem Willen Körper, Geist und Seele gleichermaßen etwas Gutes tun zu wollen. Die böhmischen Frauen und insbesondere die Köchinnen unter ihnen hatten offenbar ganz besondere Intelligenz (wenn man Schwejk Glauben schenken mag), denn sie verliehen der Böhmischen Küche den typischen Geschmack, den einzigartigen Duft und erfüllten sie mit Phantasie, Charakter und Esprit. Und so verwundert es auch wenig, wenn man hört, dass die Bibel der Böhmischen Küche von einer Frau geschrieben wurde: Magdaléna Dobromila Rettigová hieß sie und ihr Werk seht zutreffend „Domáci kucharka“ (Hausköchin!). Es ist bis heute das wichtigste, einflussreichste und wertvollste böhmische Kochbuch. Diesem Buch ist es letztlich auch zu verdanken, dass die böhmische Küche auch in den Wirren Kommunistischer Zeit nicht untergegangen ist und mittlerweile auch wieder im eigenen Land ein kräftiges Lebenszeichen von sich geben kann.
Es wäre andererseits aber auch verkehrt zu denken, dass sich eine regionale Küche nicht weiterentwickelt und es wäre auch fatal zu glauben, dass sie resistent gegen Einflüsse von außen sein kann oder sogar sein muss. So hat die Böhmische Küche z.B. schon früh die Kartoffeln eingeführt und aus ihr bis dato nicht dagewesene Rezepte gezaubert (und wo stünde sie tatsächlich, wären da nicht auch die berühmten Knödelgerichte), von den Slawen wurden Mohn und Sauerkraut übernommen, das Brauen von hellem Bier lernte man in Bayern und schuf mit diesem Wissen das Pils, den Gipfel allen Biergenusses, die Ungarn steuerten Gulasch und Kesselgerichte bei und von den Österreichern hat man die Liebe zu panierten Speisen abgekupfert. Doch die Böhmische Küche hat bei all diesen Einflüssen von außen nimals ihre eigenen Wurzeln vergessen und die neuen Zutaten und Speisen zwar samt ihrem Geschmack aufgenommen, aber mit dem eigenen böhmischen Charakter und Duft versehen. Und sie hat umgekehrt viel von ihrem Wissen weitergegeben, nach Wien beispielsweise oder eben auch nach Berlin; nicht wenige Kulinarik-Historiker sehen daher in der Böhmischen Küche die Mutter der Österreichischen und der Deutschen Küche gleichermaßen – das ist vielleicht etwas übertrieben, aber ganz verkehrt auch nicht.
Die heutigen Köchinnen und Köche Böhmens – viele von ihnen wahre Meister der Kochkunst – können (nicht nur Dank Rettigova, sondern vor allem dank der Mütter und Großmütter die aller politischen Wirren zum Trotz das alte Wissen in unzähligen Kladden und natürlich auch mündlich weitergegeben haben) auf ein unschätzbares Material an altem historischen und traditionellem Wissen um die Küche und das Küchenhandwerk zurückgreifen und dürfen, nein müssen, diese alte Kunst den modernen Zeiten anpassen, wo es nötig ist. Der Charakter der Böhmischen Gerichte geht nicht verloren, wenn man mit weniger Mehlschwitzen und reduzierten Fettmengen arbeitet, Portionsgrößen verringert oder den Gesamt-Kaloriengehalt etwas reduziert. Aber der Charakter geht verloren, wenn man Gerichte wie Dršťková (Kuttelsuppe), Svíčková (Rinderfilet in Wurzelrahmsauce), Povidlové taštičky (Powidldatschkerln) oder Škubánky (Kartoffel-Nockerln mit Mohn und Zucker) nicht mehr auftischt und Geräte statt Handwerk in der Küche dominieren, wie das in modernen Küchen leider viel zu oft der Fall ist.Die sich ständig ändernden Lebensumstände, die immer wieder neue Ernährungsgewohnheiten erfordern, führten begreiflicherweise dazu, dass nicht alles aus dem Reichtum der altböhmischen Küche in die heutige Zeit hinüberzuretten war – auch nicht mit Hilfe der mündlichen Übertragung und leider auch nicht mittels Rettigova und ihrem Buch. Aber immerhin haben die heutigen Köche die Möglichkeit, die Wirren der 50er bis 90er Jahre vergangenen Jahrhunderts vergessen zu machen und mit einer neu interpretierten Böhmischen Küche diese auch in Zukunft mit ihrer unverwechselbaren Handschrift versehen aufzutischen und somit zu altem Glanz zurückzuführen – denn eine Bereicherung für unseren Speiseplan sind diese alten Rezepte in jedem Fall und für Leib und Seele sowieso. Aber das Wissen um die traditionelle Regionalküche wird nur dann erhalten, wenn die Rezepte auch weiterhin – vor allem in den Haushalten – bewahrt werden, was anders gesagt bedeutet: die Böhmische Küche lebt nur weiter, wenn sie auch gekocht und genossen wird!
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